Wahnsinn und Wirklichkeit: Bundestagsberatungen im Endspurt

Goethe sagte, es sei Wahnsinn, „wenn man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände und Verhältnisse, mit denen man es zu tun habe, weder Kenntnis habe noch nehmen wolle, diese Beschaffenheit hartnäckig ignoriere.“ (4)

In Berlin gehen die Beratungen des Fracking-Pakets in die letzte Runde. Die Bundestagsausschüsse für Umwelt (8.6.2015 und Wirtschaft (10.6.2015) beraten den Kabinettsentwurf und die Änderungsvorschläge, die aus allen Fraktionen und vielen Bundesländern vorgelegt wurden. Noch vor der Sommerpause (so die Planung) soll das Gesetzpaket dann vom Bundestag beschlossen werden.

Die Bundesrepublik gibt damit vor, einen anderen Weg zu gehen als beispielsweise die USA. Dort wurden zu Beginn der Fracking-Ära erstmal Gesetze außer Kraft gesetzt (z.B. der Water Drinking Act), die für die Fracking-Industrie seitdem nicht gelten. In Deutschland soll die Zukunft gesichert werden, indem die Umwelt geschützt wird vor bösen Auswirkungen wie in Pennsylvania oder anderen zerfrackten US-Staaten.

Unsere Wirklichkeit, die „wahre Beschaffenheit der Gegenstände“ (Goethe), das ist: Eine großspurig verkündete, aber allenfalls halbherzig betriebene Energiewende. Braunkohletagebau, fossile Energien an allen Ecken und Enden, Behinderung der Sonnenenergie. „Das Landesbergamt hat die Aufgabe, der Wirtschaft den Zugang zu Rohstoffen zu ermöglichen“, sagt ein leitender Beamter des LBEG (3). Senkung des Förderzinses für Erdöl und Erdgas in Niedersachsen: Wir haben jahrzehntelange gute Erfahrung mit der ordnungsgemäßen Förderung von Gas und Öl, verkündet der niedersächsische Wirtschaftsminister Lies landauf, landab – und die unerklärlichen Häufungen im Krebsregister? Und die sanierungsbedürftigen Bohrschlammgruben? Und die Quecksilbervergiftungen an Bohrplätzen? Und die ganzen Störfälle an Lagerstättenwasserleitungen, die Brandkatastrophen, das Öl auf Weiden im Münsterland oder in den Bächen bei Etzel/Ostfriesland? Nur solange keiner hingeguckt hat, war nichts zu sehen. Von seiner Partei war Minister Lies heftig kritisiert worden wegen seiner Verniedlichung, es sei doch jahrzehntelang in der Gas- und Ölförderung nichts passiert. Jetzt hat er in der Bundestagsdebatte um die Fracking-Gesetzgebung dieselbe Leier wieder gezupft. Nach Goethes Definition ist das Wahnsinn.

Gibt es noch Veränderungschancen?

Nicht alle in Berlin sind wahnsinnig. Die Vernunft zieht sich (z.T. rudimentär) durch alle Fraktionen und kulminiert bei den Grünen und Linken. Wenn man die „Verhältnisse, mit denen man es zu tun habe“ (Goethe) zur Kenntnis nehmen wolle, müsse man noch klären:

1. Soll das Fracking-Teilverbot weiter beschränkt bleiben auf Bodenschichten, die weniger als 3000 Meter unter der Erde liegen – darunter kann auch Schiefergas gefrackt werden? Oder muss nicht Schiefergasfracking generell verboten sein, egal wie tief?
2. Soll die Ölförderung im Gegensatz zur Gasförderung fast unreguliert bleiben? Dann darf munter gefrackt werden, wo immer nach Öl gesucht wird. Oder sollen für Öl dieselben Regelungen gelten wie beim Gas?
3. Soll Lagerstättenwasser über oder unter der Erde entsorgt werden (Versenkung oder Verarbeitung)?
4. Soll eine Expertenkommission aus Wissenschaftlern der Politik die Entscheidungen über Ausnahmegenehmigungen abnehmen?

Die Wissenschaft hat festgestellt…

Es hat den Anschein, als wenn die Politik immer dann nach der Wissenschaft ruft, wenn sie nicht selbst entscheiden möchte oder eine Ausrede für Untätigkeit sucht. Die Wirtschaft hat es hingegen nicht so mit dem Abwarten

und fördert und fördert. Was sagt denn die Wissenschaft selbst dazu? Kürzlich gab es Wortmeldungen dazu von der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh). Die Wissenschaftler haben vor über einem Jahr einen Fachausschuss „Chemikalien in Hydrofracking zur Erdgasgewinnung“ gebildet, der sich nun zum Gesetzentwurf geäußert hat, und zusammen mit dem renommierten amerikanischen Umweltwissenschaftler und Fracking-Folgen-Spezialisten Avner Vengosh haben sie eine Stellungnahme in einer internationalen Fachzeitschrift abgegeben (1,2).

Die Wissenschaftler äußern sich beispielsweise zu der dritten oben angeführten Fragestellungen, der Behandlung von Lagerstättenwasser und Flowback. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist vorgesehen, dass die für die Frack-Durchführung erforderlichen und von über der Erde nach unten zugefügten Chemikalien, die im Flowback wieder zutage gefördert werden, oberirdisch zu bearbeiten und zu entsorgen sind. Das Lagerstättenwasser hingegen soll „dahin zurückgebracht werden, wo es herkommt“ (so heißt das immer schönfärberisch bei Wirtschaft und Politik), es soll also weiterhin in die Erde verpresst werden. Es gibt da ein grundlegendes Problem, sagt die Wissenschaft: beide Flüssigkeiten kommen zusammen aus der Erde, sind nicht zu trennen,

wie also soll eine so unterschiedliche Entsorgung praktisch durchgeführt werden? Der Laie sagt sich: das ist doch unmöglich, das geht doch gar nicht. Die Aussage der Wissenschaftler klingt etwas verbindlicher, aber irgendwie genauso.

Außerdem, so die Fachleute, ist die vollständige Deklarierung aller eingebrachter Chemikalien nach geltender Liste (REACH, CAS usw.) ein richtiger Schritt – aber es muss auch bedacht werden, dass diese Stoffe nicht nur einfach in den Boden gedrückt werden und mit dem Gas jungfräulich wieder rauskommen, sondern zwischendurch mannigfache Veränderungen erfahren. Unter dem zunehmenden Druck größerer Tiefe und den steigenden Temperaturen mehrere tausend Meter unter der Erdoberfläche (es wird ca. 30° pro tausend Meter wärmer) reagieren die chemikalischen Stoffe unvorhersehbar miteinander. Was sich wo anlagert, sich verbindet, neue Stoffe bildet – keiner weiß es wirklich. Dann kommen diese unvorhersehbar veränderten Stoffe mit dem Lagerstättenwasser wieder nach oben und werden allenfalls mechanisch gefiltert. So sollen sie dann wieder in die Erde, und keiner weiß, was er da verpresst. Der Betriebsleiter eines großen Förderunternehmens auf die Frage, was denn da alles drin ist, in dem Lagerstättenwasser: „Na ja, das ist kontaminiert, das ist halt … Lagerstättenwasser…“ (3). Entweder wissen die Industrieunternehmen über die Chemie ihres Tuns genauso wenig wie die Wissenschaftler – oder sie halten es geheim. Keine der beiden Optionen beruhigt.

Eine Randbemerkung ist hier unumgänglich: die Floskel „das Lagerstättenwasser dahin zurück bringen, wo es herkommt“ ist eine geschickte Lüge der PR-Abteilungen von EXXON, RWE und den anderen Mitspielern. Tatsächlich plant RWE eine zentrale Verpressstelle bei Völkersen (Kreis Verden) und Exxon eine bei Walsrode (Heidekreis). Sie bringen mit der Verpressung also das Lagerstättenwasser mitnichten dahin, wo es herkommt, sondern karren tausende von LKW-Ladungen giftiger Brühe durch das Land, um zentral möglichst viel von ihren Abfällen möglichst unauffällig aus den Augen zu schaffen. Es landet dann irgendwo unter einem Dorf (oder, wie in Hamburg-Harburg, unter einer Millionenstadt). Bisher hat niemand sich dafür interessiert, woher die Atemwegsprobleme, die Krebsraten, die Autoimmunerkrankungen usw. in diesen Regionen stammen. Erde zu Erde, Staub zu Staub.

Die Gruppe um Elsner und Vengosh weist außerdem darauf hin, dass es für die oberirdische Bearbeitung des Flowbacks keine erprobten Verfahren gebe. Insofern halten sie auch das Versprechen, die Umweltverträglichkeitsprüfungen würden Gewähr für sichere Abläufe in Produktion und Entsorgung leisten, für unrealistisch. Wie soll man etwas prüfen, was man weder kennt (chemische Zusammensetzungen/Reaktionen) und dessen Verarbeitung über der Erde bisher nicht erprobt und wissenschaftlich begleitet wurde?

Abschließend „bedanken“ sich die Wissenschaftler für die ihnen zugedachte Aufgabe, die Kastanien für die Politik aus dem Feuer zu holen und in der Expertenkommission darüber entscheiden zu sollen, in welchen Ausnahmefällen auch oberhalb von 3000 Metern im Schiefergestein gefrackt werden darf. Das ist eine Entscheidung, so die Wasserchemiker, die neben ihren spezifischen Beiträgen aus der Wasserchemie vielfache weitere Faktoren wie Landschaftsschutz, Raumordnung usw. zu berücksichtigen hat. Darüber können nur Politik und Behörden entscheiden. Schönen Dank, wir forschen gern, entscheiden müsst ihr in Politik und Behörden. Klingt plausibel, findet der Laie.

Aber in der gesetzgeberischen Realität wird die Expertenkommission mit einiger Wahrscheinlichkeit doch eingesetzt werden. Die Realität in Berlin ist doch irgendwie anders. Der Einfluss der Wirklichkeit auf die virtuellen Welten der Gesetzgebung scheint oftmals verschwindend gering. Würde Goethe das nicht als Wahnsinn bezeichnen?

Jetzt ist die Aufgabe des Tages: Jede/r Bundestagsabgeordnete muss von uns täglich mit der Nase auf die Realität gestupst werden, wie wir sie selbst tagtäglich erleben. Jeden Tag müssen sie Emails und Anrufe erhalten, in denen wir ihnen unsere Sorgen mitteilen. Sie sollen mit der Welt nachhaltig und sorgsam umgehen, damit wir sie unseren Kindern lebenswert hinterlassen. Die Wirklichkeit im Parlament soll mit unserer Lebenswirklichkeit so synchronisiert werden, dass der Wahnsinn ein Ende hat.

Anmerkungen:
(1) Comment on the German Draft Legislation on Hydraulic Fracturing: The Need for an Accurate State of Knowledge and for Independent Scientific Research. Elsner, M. e.a., Environmental Science & Technology 2015, in Vorbereitung)
(2) Stellungnahme zum Gesetzentwurf zum Fracking. Elsner, M., e.a., Wasserchemische Gesellschaft aktuell, Vom Wasser 113 (2015)
(3) Ausschuss für Gesundheit und Umwelt, Bezirksversammlung Harburg, 19.5.2015)
(4) „Vom Wahnsinn gab Goethe die einfache Definition, dass er darin bestehe, wenn man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände und Verhältnisse, mit denen man es zu tun habe, weder Kenntnis habe noch nehmen wolle, diese Beschaffenheit hartnäckig ignoriere.“ – Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller , Hrsg. Carl August Hugo Burckhardt, 2. Auflage, Verlag J.G. Cotta 1898, Seite 178. 13. Juni 1825

(Ingo Engelmann)

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